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Unser BVP-Gesprächsbegleiter Marco Detering im Gespräch mit der Abseits

Beratung im Heim: Behandlungen im Voraus planen

Zeit, um über Leben und Sterben zu reden

Spätsommer 2022. Während Sie hoffentlich die letzten warmen Sonnenstrahlen des vergan­genen Jahres genießen konnten, habe ich über meinem ersten Artikel für die abseits gebrütet. Das Thema versprach weniger sommerliche Leichtigkeit als tiefe Ernsthaftigkeit: Sterben in Krankenhäusern. Es ging um das Schicksal eines älteren Herrn, der als Heimbewohner in ein Krankenhaus verlegt wurde, wo er letzten Endes verstarb.

Es ist wieder Sommer, ein knappes Jahr später, und ich beschäftige mich erneut mit der Thematik. Der Grund: eine E-Mail, die mich im Januar erreichte: 

Liebe abseits-Redaktion, 
ich wollte mit Ihnen Kontakt aufnehmen we­gen des in der Betreffzeile genannten Artikels [Anmerkung: ,,Wenn ein letzter Wunsch nicht erfüllt wird"] aus dem letzten Jahr. 
Dieser Artikel hat mir sehr gut gefallen, denn er spiegelt schon ziemlich gut die Realität in den Pflegeheimen wider. Menschen werden kurz vor ihrem Lebensende noch in Krankenhäuser geschickt, obwohl der medizinische Nutzen fragwürdig ist. Die wichtigste Frage ist dabei ja, sind diese Menschen überhaupt noch bereit, derartige Belastungen in Kauf zu nehmen? 

Autor dieser Nachricht ist Marco Detering - wie ich später erfahren sollte: langjährige Pfle­gefachkraft und Wohnbereichsleiter. Er schrieb weiter, dass er mittlerweile Gesprächsbegleiter bei der Diakonie Osnabrück nach BVP-Konzept sei. Worum es sich dabei handelt, erfahre ich bei einem Besuch im Haus Schinkel an der Buerschen Straße. 

Marco Detering baut seinen Laptop auf. Das wird wohl theoretischer als gedacht, geht es mir durch den Kopf.
Er registriert meine Verwunderung und klärt mit ruhiger Stimme auf: ,,Diese Präsentation zeige ich auch den Mitarbeitenden in den Wohnbereichen. Sie verdeutlicht, worum es bei der ,Behandlung im Voraus Planen' geht." Das also verbirgt sich hinter der Abkürzung BVP. ,,Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Heimbewohner"'innen behandelt werden möchten. Diese Entschei­dungen werden in Gesprächen getroffen und schriftlich festgehalten, so dass sich die Mit­arbeiter"'innen der Altenhilfeeinrichtungen, der Rettungsdienste oder Krankenhäuser daran orientieren können." 

Ich werfe ein: ,,Ich dachte, das regelt jede ,normale' Patientenverfügung?" Marco Detering erwidert freundlich: ,,Patientenverfügung ist nicht gleich Patientenverfügung. Viele enthal­ten allgemeine Phrasen wie: ,Wenn irreversible Schäden sehr wahrscheinlich sind, lehne ich lebensverlängernde Maßnahmen ab.' Was heißt das? Von welchen Schäden reden wir hier? Wir machen keinen Mathematikunterricht, aber ab wann gilt etwas als ,sehr wahrscheinlich'? Ganz zu schweigen von den vielen lebensver­längernden Maßnahmen, die es gibt. Wird eine Intubation zur Beatmung abgelehnt? Oder auch eine Antibiotikagabe bei zum Beispiel einer Lungenentzündung? Sie sehen, damit können die Arzte in einer Klinik keine wirklichen Schlüsse ziehen, welche Behandlung sich ein Patient wünscht und welche er ablehnt." 

Das leuchtet mir ein. Aber wie können die Bewohner"'innen eine aussagekräftige Ver­fügung erstellen? Neben seinem Laptop hat Marco Detering einen kleinen Stapel farbiger Blätter aufgeschichtet. ,,Anhand dieser Zettel begleite ich die Bewohner. Ich bevorzuge das Wort ,begleiten'. Diese Einstellung wurde uns während meiner Zertifizierung zum Gesprächs­begleiter vermittelt. Wir nehmen uns Zeit, über den Tod und das Sterben zu reden - aber auch über das Leben. Sie entscheiden, was sie mir mitteilen möchten. Sie nehmen sich Pausen, wenn sie die nötig haben." 

Die Begleitungen werden anhand von ver­schiedenen Zetteln strukturiert. Marco Detering geht Blatt für Blatt mit mir durch. ,,Ich suche in der Regel sechs Wochen nach dem Einzug der Bewohner das Gespräch und informiere sie über das Angebot. Zirka 60 Prozent kommen mit einer Patientenverfügung. Das ist eine gute Grundlage. Anhand des BVP-Konzepts vertiefen wir die getroffenen Wünsche und Entschei­dungen." So viel der Theorie. Ich frage Marco Detering, ob die Möglichkeit besteht, dass ich eine solche Gesprächsbegleitung in der Praxis miterlebe. ,,Es ist natürlich ein emotionales Unterfangen. Aber ich bin dran", versichert er mir. 

Drei Wochen später. Mich erreicht erneut eine Mail von Marco Detering. ,,Eilmeldung! Per­son für Gespräch gefunden", lautet der vielsagende Be­treff. Monika Helmkamp hat sich bereit erklärt, dass ich beim ersten Informations­gespräch zwischen ihr und Marco Detering anwesend sein kann. 
Haus Schinkel, anderer Raum. Marco Detering führt mich an eine Gruppe von zu­sammengerückten Tischen. Kaum sitze ich, stehe ich schon wieder auf, um eine freundliche Dame mit bun­tem Blazer und Lächeln zu begrüßen: Monika Helmkamp. Ihre Mutter, 92 Jahre, lebt seit eineinhalb Jahren im Haus Schinkel. Bei einem Sturz in ihrer Wohnung hat sie sich das Bein gebrochen. Danach kam sie nicht wieder auf die Beine. Damit verbunden war eine schnelle Abnahme ihrer geistigen Fer­tigkeiten. Mittlerweile erkenne sie ihre Tochter kaum noch, schildert Monika Helmkamp. Ihre Mutter habe zwar eine Patientenverfügung nach dem Tod des Ehemanns erstellt, aber diese sei schon bald zehn Jahre alt, berichtet sie. ,,Ich möchte, dass meine Mutter so leben kann, wie sie es sich wünscht", beschreibt Monika Helmkamp ihre Motivation für das BVP-Gespräch. 

Und so kommen Marco Detering und Monika Helmkamp ins Gespräch. Anhand des ersten Zettels erfragt Marco Detering, welche Einstel­lung Monika Helmkamps Mutter zu Leben und Tod hatte und hat. Er fragt nach Erfahrungen und UIJlgang mit Sterbefällen in ihrem Umfeld, nach Äußerungen und Wünschen der Mutter zum eigenen Sterben. Monika Helmkamps Berichte spiegeln die enge Beziehung zu ihrer Mutter wider: Mal heiter und voller Energie be­richtet sie über Anekdoten in der Familie, mal leise und betroffen, wenn es um den Tod geht. Marco Detering greift Aussagen auf, schließt auf eventuelle Wünsche im Hinblick auf das Ableben der Mutter. 

Eine knappe Stunde ist vergangen. ,,Können Sie noch?", fragt Marco Detering seine Ge­sprächspartnerin. ,,Ist doch einiges", erwidert Monika Helmkamp. Der erste Zettel ist gut mit Notizen gefüllt, bemerke ich. Die restlichen werden sie Stück für Stück in weiteren Ge­sprächen füllen. ,,Ich hoffe, ich treffe die Ent­scheidungen, wie meine Mutter sie getroffen hätte", resümiert Monika Helmkamp. Dafür nehmen sie sich Zeit - Zeit, um über den Tod und das Leben zu sprechen. 

 

Artikel "Abseits" Juni/Juli 2023 Verfasser: Tobias Hoferichter

 

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